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(1972) Soziologie und Sozialgeschichte, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Sozialgeschichte und Soziologie als soziologische Geschichte

Zur Raum-Zeit-Lehre der "Annales"

Manfred Wüstemeyer

pp. 566-583

Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Soziologie ist wissenschaftsgeschichtlich von Anfang an problematisch und determiniert gewesen durch das gegenseitige Bewußt-sein übergroßer Nähe im Gegenstandsbereich und Konkurrenz hinsichtlich der gesellschaftlichen Relevanz der Ergebnisse1. Dieses Spannungsverhältnis leitet sich her aus der revolutionären Dynamik der sich im 19. Jahrhundert verstärkt arbeitsteilig organisierenden Industrie und sozialfunktional differenzierenden bürgerlichen Gesellschaft, Prozesse, die die traditionell auf die bürgerlich-staatliche Sphäre gerichteten Wissenschaften um die Sicherheit ihres jeweiligen Gegenstandes, der Methoden seiner Erfassung und der Begriffe und Formen seiner wissenschaftlichen Darstellung gebracht haben2. Obwohl oder gerade weil man das 19. Jahrhundert — in Unterschätzung der gleichzeitigen Leistungen der Naturwissenschaften — das »Jahrhundert der Geschichtswissenschaft« genannt hat, ist die Wissenschaft von der Geschichte von den in dieser Epoche vor sich gehenden Entwicklungen im Zeichen von »bürgerlicher Emanzipation« und »sozialer Frage« am stärksten in ihrem Objektbezug und Realitätsverständnis gestört worden. Gerade weil sie ihr Gebiet, wie Ranke gesagt hat, als ein »unermeß-liches« betrachtete und demzufolge eine Integrationswissenschaft mit größtmöglicher Reichweite hätte sein müssen, in Wahrheit jedoch ihr Erkenntnisinteresse den Erklärungszusammenhang recht willkürlich um staatlich-politische und geistig-kulturelle Phänomene herum begrenzte, konnte sich im vernachlässigten Bereich der »sozialen Welt«3 die Theorie einer selbstbewußt gewordenen Gesellschaft als eigenständige Wissenschaft organisieren. Die Soziologie hat diesen Platz behauptet, obwohl sich im 19. Jahrhundert ein ganzes System von Einzelwissenschaften im Gegenstandsbereich von Staat und Gesellschaft etabliert hat, dessen Disziplinen sich entweder aus historischen Spezialwissenschaften systematisch entwickelten oder außerhalb der Geschichtswissenschaft entstanden. Sogar die relativ frühe Entstehung einer »Sozialgeschichte«, in Anlehnung an Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, hat daran bis heute nichts geändert. Das scheint dafür zu sprechen, daß der neuen Wissenschaft der Soziologie ein »spezifisches Objekt« zugehört, und zwar »ein geschichtlich charakterisiertes: dasjenige nämlich, mit dem sie zugleich und als dessen theoretisches Bewußtsein sie entstanden ist«4.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-83551-2_24

Full citation:

Wüstemeyer, M. (1972)., Sozialgeschichte und Soziologie als soziologische Geschichte: Zur Raum-Zeit-Lehre der "Annales", in P. C. Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 566-583.

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